NACHWORT
In diesem Buch erzählt ein Davongekommener von einem Wunder, ohne sich zu wundern. Er weiß nämlich, daß Wunder von Menschen gemacht werden. Und daß sie - was sie unfaßbar werden läßt - mit dem Zufall verbündet sind. Damals, im Sommer 1977, als mir Eva Demski das Manuskript Valentin Sengers in die Hand drückte mit dem Wunsch, es solle unbedingt bei Luchterhand erscheinen, lag es mir noch fern, über Wunder in menschenfeindlicher Zeit nachzudenken. Ich hatte die Lektüre noch vor mir. Von Eva erfuhr ich, Valentin Senger arbeite als Redakteur beim Fernsehen des Hessischen Rundfunks. Er sei Jude, in Frankfurt zur Welt gekommen, und erzähle in dem Manuskript sein abenteuerliches Leben. Ich nahm an, daß er nach dem Krieg aus dem Exil zurückgekehrt war. Bis mir seine Erzählung beibrachte, über Wunder nachzudenken. Auch über die Fragwürdigkeit von Verallgemeinerungen.
Der Anfang seiner Erinnerungen nahm mich mit ein paar Sätzen gefangen. Ich sehe das Kerlchen mit einem Blechclown unter einem runden Tisch spielen, an dem die Familie sitzt, sehe mit ihm das Gatter aus kräftigen Beinen, in Strümpfen, in Hosen. Ein Käfig oder ein Haus, wie es die Kaiserhofstraße 12 für die ganze Familie wurde. Je nachdem.
Dem Verleger sagte die Geschichte nicht zu. Sie sei zu grobschlächtig erzählt. Vielleicht wehrte er sich gegen ihre Unmöglichkeit. An einem Sommernachmittag las ich ihm und anderen aus dem Verlag auf der Terrasse unseres Hauses das erste Kapitel vor. Ich gesellte mich zu dem Kind unterm Tisch, erfuhr mehr von seinem Papa, seiner Mama, von Schwester und Bruder, bekam mit, daß beide Eltern der KPD angehörten, und lernte, daß Chöchem auf jiddisch »Neunmalkluger« bedeutet. Meine Zuhörer ließen sich auf Sengers Erzählung ein, der Funke sprang über. Mit einem Satz, den ich langsam, Wort für Wort, las, gelang es mir, auch die Zweifler zu überzeugen: »Mama zerriß sich für uns Kinder, wenn es darauf ankam, für mich, für die zwei Jahre ältere Paula und den fünf Jahre jüngeren Alex. Da sie sich aber noch für tausend andere Dinge zerriß, blieb ihr für uns nur wenig Zeit übrig, und am liebsten war es ihr, wenn wir sie nicht störten.« Ich las weiter, wie das Paar aus dem zaristischen Rußland fließen mußte, zwei verfolgte Revolutionäre, wie sie erst in Offenbach landeten, sich danach in Zürich meldeten, schließlich in Frankfurt unterkamen, Spuren verwischten, herkunftslos wurden. Diese undeutliche Identität half ihnen Jahre später, wenn die Mutter den Kindern die Arglosigkeit austrieb, sie bat, sich mit keinem unbedachten Wort zu verraten. Sie seien Bewohner der Kaiserhof Straße 12, nichts Besonderes, keine Juden und keine Sprößlinge einer Kommunistenfamilie. Bei solcher mentalen Vermummung fiel es offenbar auch nicht auf, daß Vater Senger ein Leben lang, wie sein Sohn Valentin bezeugt, das Jiddisch aus seiner Rede nie losbekam.
Dies Phänomen löst von neuem die Frage nach dem Wunder aus. Haben die Arbeitskollegen des alten Senger in der Sachsenhäuser Zahnradfabrik allesamt nicht gut gehört oder das Jiddisch für eine Spielart des hessischen Dialekts gehalten? Haben sie - alle! - vorsätzlich den »anderen« Ton nicht hören wollen? Gab es tatsächlich keinen, der »meldete«, was nicht stimmte? Ich habe als zehnjähriger Pimpf den verordneten Verfolgungswahn der Nazis, den Haß auf Juden, Zigeuner, Bolschewiken erfahren und bin gegen diese Gedankenpestilenz gefeit gewesen, weil in meiner Familie anders gedacht und gelebt wurde.
Ohne Zweifel gibt es in der an Wundern reichen Geschichte Valentin Sengers Menschen, die wissentlich über verräterische Details hinwegsehen, die nicht hören und nichts sehen wollen. Doch selbst unter den Mitbewohnern des Hauses in der Kaiserhofstraße finden sich bekennende Nazis wie der Bäcker, dessen Frau auf den jungen Valentin scharf ist, der, schlau und vorsichtig geworden, das Abenteuer scheut. Der Wahnsinn will es, daß Valentin und sein Bruder gemustert und zur Wehrmacht eingezogen werden, zwei jüdische Jungen in Hitlers Uniform. Sie werden nicht »entdeckt«. Sicher haben die klugen Vertuschungen Mama Senger für alle Wunder gesorgt, nicht zuletzt die durch Pässe verbürgte »Staatenlosigkeit« und das fehlende lebensgefährliche »J« darin.
Alle diese Zufälle sind bedingt durch Gewöhnung. Seit Ewigkeiten lebt man in dem Haus miteinander, man kennt sich, hilft sich gegenseitig aus, hilft, wenn es nötig ist, und hat - vor allem - keinen Grund, auf die anderen neidisch zu sein. Alle leben bescheiden. Sie gehen zur Arbeit, haben ihre oft gewöhnungbedürftigen Eigenheiten, leiden unter Einschränkungen, haben Angst während der Fliegerangriffe und werden geführt unter dem Sammelbegriff »Volksgenossen«.
Vater Senger wird zwar von der Gestapo festgenommen und verhört, weil er russischen »Fremdarbeiterinnen« half, im Verhör verrät ihn freilich nicht das selbst für seine Kinder sonderbare Idiom, sondern es wird ihm »Gutmütigkeit« vorgeworfen, eine für die Nazis keinesweg jüdische Eigenschaft. Nein, die Sengers fallen nicht auf; sie kommen durch.
Die Mama, die unermüdlich bis zur Atemlosigkeit Spuren verwischte, starb in den Vierzigern. Das Kapitel, in dem der Sohn ein Grab für die Mutter sucht, beginnt als Nachruf »Ihr Leben war schwer, nicht weniger als ihr Sterben. Bis im Herbst 1944 das kranke Herz endgültig zu schlagen aufhörte, hatte es sich Monate und Jahre verzweifelt weiter gequält, flackernd wie eine verlöschende Kerze (...) Mama war nicht bereit aufzugeben, denn sie wollte den Tag noch erleben, wo sie hätte sagen können: Wir haben es geschafft! Von heute an brauchen wir keine Angst mehr zu haben!« Da sie nicht an Wunder glaubte, gelang es ihr, jede Sorge in Vorsorge zu verwandeln.
Der Kanonier Senger kehrt zurück ins zerstörte Frankfurt; das Haus in der Kaiserhofstraße steht noch Jahre danach muß es einem Parkhaus weichen). Sein Vater wartet auf ihn.
Damit endet die Beschreibung der unmöglichen Möglichkeiten des Überlebens. Was folgt, ist schändlich und nur mit den Verdrängungen und Verlogenheiten der Nachkriegsepoche zu erklären. Der Heimkehrer, von der revolutionären Gesinnung der Eltern geprägt, schließt sich der kommunistischen Partei an und arbeitet bis 1956 als Redakteur bei der sozialistischen Volkszeitung. Der Ungarnaufstand, seine brutale Niederschlagung durch sowjetische Truppen, der Antisemitismus in den kommunistisch regierten Ländern bringen ihn auf. Er verläßt die Partei. Schon zuvor verlangte es ihn, Bürger des Landes zu werden, in dem er so »wunderbar« überlebte. Immerhin ist er gebürtiger Frankfurter, ein durch lebensgefährliche »Prüfungen« gegangener deutscher Jude. Er stellt Antrag auf Antrag. Vergeblich. Erst 36 Jahre nach Kriegsende bekommt er die deutsche Staatsbürgerschaft, wird sie ihm zugestanden. Der Hessische Rundfunk stellt den Journalisten Senger ein, er übernimmt die Wirtschaftsredaktion im Fernsehen. Und er schreibt ein zweites Buch: »Kurzer Frühling«. In ihm erzählt er sich in die schwierige Gegenwart, kommt auf seine Auseinandersetzung mit dem Kommunismus zu sprechen und - nachdem er sich ein halbes Leben vergessen mußte - auf sein Judentum.
Ich lernte Vali, wie er von seinen Freunden und Kollegen gerufen wurde, kennen, nachdem das Manuskript von Luchterhand angenommen worden war. Ein zierlicher, kleiner Mann, der aus Wachsamkeit immerfort gespannt schien, aber sich und seine Gesprächspartner lachend aus der Spannung löste. Er starb 1997 in Frankfurt, seiner Stadt. Seine Enkelin - so will es der Zufall - geht mit einer meiner Enkelinnen in eine Klasse, sie sind Freundinnen. Wen wundert's?